Zum Inhalt Zum Hauptmenü

Kaum Bieter bei nachhaltigen Ausschreibungen? Experteninterview mit Praxistipps

Öffentliche Einkäufer, die Ihre Ausschreibungen nachhaltig gestalten wollen, stehen vor einigen Herausforderungen. Einerseits gilt es, die Vielzahl an politischen Beschlüssen zu überblicken, die immer wieder aktualisierten und erweiterten Richtlinien der Vergabe zu beachten und bereits gegebene Handlungsspielräume im Sinne der Nachhaltigkeit auszuschöpfen. Hierzu gibt es in öffentlichen Einrichtungen vielerorts noch nicht die ausreichenden personellen Ressourcen. Zudem beklagen viele Einkäufer, dass der Bietermarkt den Nachhaltigkeitsstandards noch nicht gewachsen sei.1 Gehen nicht ausreichend viele Angebote zu einer Ausschreibung ein, muss diese ggf. wiederholt werden – ein zeit- und ressourcenbindender Prozess. Daher greifen viele Einkäufer auf „bewährte“ Vorgehensweisen zurück und blenden Nachhaltigkeitsstandards in ihren Ausschreibungen nach wie vor weitestgehend aus.1

Markus Wilk arbeitet als Gebietsverkaufsleiter im Vertrieb der Tana-Chemie GmbH, einer Tochtergesellschaft der Werner & Mertz Gruppe. Durch seine Arbeit für das Pionier-Unternehmen für nachhaltige Reinigungsprodukte steht er im engen Austausch mit Einkäufern – auch aus dem öffentlichen Sektor – und kennt daher die Herausforderungen auf beiden Seiten. Im Interview gibt er Einblicke in die Bieterperspektive, insbesondere im Hinblick auf Nachhaltigkeitsaspekte in öffentlichen Ausschreibungen für Reinigungsleistungen, die ihm in der Vergangenheit begegnet sind.

Vergabe-Insider: Herr Wilk, was sind aus Ihrer Sicht aktuell die größten Herausforderungen auf dem Bietermarkt?

Wilk: Aktuell muss sich der Bietermarkt verschiedenen Herausforderungen stellen. Das sind beispielsweise die drastischen Steigerungen an den Rohstoffmärkten, aber auch und vor allem Struktur, Aufbau und Inhalte der Ausschreibungsunterlagen. Ein großes Problem ist, dass viele Einkäufer oftmals der Einfachheit halber auf alte Ausschreibungen zurückgreifen und die Mühe scheuen, neue Bieter und Möglichkeiten zu prüfen – z. B. in Form einer Markterkundung. Und das, obwohl die Vergabeverordnung (VgV) in Paragraph 28 und die Unterschwellenvergabeordnung (UVgO) in Paragraph 20 dies bereits ausdrücklich befürworten.

Weiterhin wird in vielen Fällen nach wie vor der Preis als eines der Hauptkriterien gesehen. Durch diesen Fokus gehen andere, aus unserer Sicht wichtigere Kriterien unter. Hinzu kommt, dass teilweise irreführende Messgrößen bei der Preisangabe herangezogen werden. So wird beispielsweise bei Reinigungsmitteln nur der Preis pro Liter abgefragt und die Dosierung der angefragten Produkte wird dabei außen vorgelassen. Dabei ist die Dosierung ein ausschlaggebender Faktor beim Thema Preis und durch diesen starren Fokus auf die Preisbetrachtung pro Liter werden Produkte gefördert, die stark verdünnt sind und möglicherweise nur eine mäßige Reinigungsleistung aufweisen. Es sollten eigentlich die Kosten pro Nutzungseinsatz betrachtet werden statt des reinen Literpreises.

Vergabe-Insider: Die Bieteranzahl für Produkte rund um das Thema Reinigung scheint aktuell zurückzugehen, was für die öffentliche Hand durchaus ein Problem darstellt. Haben Sie eine Vermutung, weshalb immer weniger Bieter an Ausschreibungen teilnehmen?

Wilk: Dafür gibt es aus meiner Sicht vor allem zwei Gründe:

Einen Grund stellen sicherlich die Preissteigerungen an den Rohstoffmärkten der chemischen Industrie dar, die es den Herstellern ohne eine Preisgleitklausel2 in der Ausschreibung unmöglich machen, die Preise für mehrere Jahre zu garantieren.

Einen weiteren Grund stellen die schwer kalkulierbaren Preise im Papiersektor dar. Die schwankenden Preise machen die bei Ausschreibung oft geforderte Preisgarantie über mehr als drei Monate kaum noch möglich. Werden nun Reinigungsmittel und Papierprodukte wie z. B. Handtuch- und Toilettenpapier zusammen in einem Los ausgeschrieben, bietet dies der Handel oft nicht an, weil die Preise im Papierbereich nicht über einen längeren Zeitraum kalkuliert werden können.

Vergabe-Insider: Wie sehr wird Ihrer Erfahrung nach Nachhaltigkeit in öffentlichen Ausschreibungen bereits gelebt? Haben Sie hier Positivbeispiele?

Wilk: Mittlerweile stellen wir fest, dass in immer mehr Ausschreibungen Nachhaltigkeitskriterien aufgenommen werden. Dies hängt unserer Erfahrung nach unter anderem damit zusammen, dass in der öffentlichen Verwaltung immer mehr zusätzliche Kompetenzstellen für nachhaltige Beschaffung entstanden sind, die die Themen Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft in die Vergabestellen transportieren und dort verankern. Dort befasst man sich intensiv mit diesen Themen und analysiert die bestehenden Kriterien umfassender, als es vorher der Fall war. So werden beispielsweise auch die Öko-Zertifizierungen hinterfragt, von denen es mittlerweile ja einige am Markt gibt. Ein solcher kritischer Blick hilft natürlich dabei, wirklich nachhaltige Bieter und Produkte zu ermitteln.

Positive Beispiele aus der Beschaffungspraxis gibt es hier zum Glück immer mehr, da der Wille im Bereich der öffentlichen Hand vorhanden ist, wirklich nachhaltige Produkte zu fördern. Bei vielen hapert es zwar noch in der Implementierungsphase, da von staatlicher Seite hier noch nicht genügend praxistaugliche Unterstützung gegeben ist, aber es gibt auch Vorreiter, die jetzt schon nachhaltig beschaffen. So etwa die Stadt Ludwigsburg, die Reinigungsmittel mit Cradle to Cradle-Zertifizierung ausgeschrieben hat, einem sehr umfangreichen Produktzertifikat, das beispielsweise weit über die Kriterien des EU-Ecolabels hinausgeht und neben der Rezeptur des Reinigungsproduktes auch die Verpackung hinsichtlich ihrer Kreislauffähigkeit betrachtet.

Vergabe-Insider: Für viele scheint es nach wie vor eine Hürde zu sein, Nachhaltigkeit in Ausschreibungen zu integrieren. Sind diese Bedenken Ihrer Meinung nach berechtigt?

Wilk: Um diese Frage zu beantworten, muss man sich in die Lage der ausschreibenden Stellen versetzen. Eine Studie der Universität der Bundeswehr München von 2021 hat gezeigt, dass die größten Herausforderungen darin liegen, ausreichend Zeit für eine nachhaltige Ausschreibung zu finden sowie das spezifische Know-how aufzubauen – für die Implementierung generell und für die Möglichkeiten der Integration von Nachhaltigkeitskriterien für die spezifischen Warengruppen wie in unserem Beispiel der Reinigungsmittel. Ein interessantes Ergebnis, das zeigt, dass es auch Verunsicherungen aufseiten der Behörden gibt.

Das Thema Nachhaltigkeit wurde in der Vergangenheit lediglich empfohlen und nicht zwingend vorgeschrieben, wie das Kreislaufwirtschaftsgesetz zeigt, das es bereits seit 2012 gibt. Dieses wurde mittlerweile novelliert, sodass in Paragraph 45 KrwG nun eine geregelte Bevorzugungspflicht nachhaltiger Produkte festgehalten ist. Zu bevorzugen sind demnach Produkte, die umweltschonend mit nachwachsenden Rohstoffen sowie unter dem Einsatz von Recyclat hergestellt wurden. Darüber werden Produkte gefördert, die sich durch Langlebigkeit, Reparaturfreundlichkeit, Wiederverwendbarkeit und Recyclingfähigkeit auszeichnen oder im Vergleich zu anderen Erzeugnissen zu weniger oder schadstoffärmeren Abfällen führen. Leider ist das Gesetz immer noch nicht in allen Bundesländern umgesetzt und entsprechende Umsetzungsrichtlinien fehlen nach wie vor.

Nachhaltigkeit in Ausschreibungen zu integrieren ist durchaus umsetzbar. Wichtig ist hierbei zu wissen, dass noch nicht alle Reinigungsmittel den strengen Regeln einer beispielsweise Cradle to Cradle-Zertifizierung entsprechen können. Hierbei handelt es sich etwa um Desinfektionsprodukte, Sanitärgrundreiniger und Sonderreinigungsmittel. Daher wäre es aus Nachhaltigkeitsgründen sinnvoller, die Produkte in einzelnen Losen zu platzieren und in der Leistungsbeschreibung die entsprechenden Kriterien klar zu definieren. Weiterhin ist der „erweiterte Umweltfragebogen“ eine gute und rechtskonforme Möglichkeit, nachhaltige Produkte auszuschreiben.

Vergabe-Insider: Nutzen Sie intern für Ausschreibungen eine Art Checkliste? Und wenn ja: Welche Schritte sind hierauf vermerkt?

Wilk: Aktuell ist es so, dass in erster Linie geprüft wird, ob eine Preisgleitklausel2 in der Ausschreibung enthalten ist und wie lange der Ausschreibungszeitraum definiert wurde. Danach werden die Aufteilung der Lose und die Wertungskriterien überprüft. Im Anschluss daran fällt für uns die Entscheidung, ob eine Teilnahme sinnvoll ist oder nicht.

Weiterführende Infos, Hintergründe, Tipps und Umsetzungshilfen

Der Vergabe-Insider unterstützt mit Hintergrundinformationen, praktischen Richtlinien und Tools alle, die öffentliche Ausschreibungen und Vergaben nachhaltiger gestalten wollen.

In Kooperation mit der Universität der Bundeswehr München (UniBw M) wurde der vergaberechtskonforme Praxisleitfaden N-O-Mat entwickelt, der hier kostenfrei zum Download zur Verfügung steht. Dieser bietet eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für operative und strategische Einkäufer, um Nachhaltigkeitskriterien konsequent in Ausschreibungsunterlagen einzubinden.

Weitere Hintergrundinformationen zu kürzlichen Entwicklungen in der Gesetzgebung finden sich unter anderem in dem Artikel zu Kreislaufwirtschaft im European Green Deal oder im Beitrag zur Verankerung von Nachhaltigkeit und Klimaschutz im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierungskoalition.
Weiterhin finden Sie auf diesen Seiten einen Überblick zu ausschreibungsrelevanten Umweltlabels sowie einen Vergleich der Labels „Blauer Engel“ und „Cradle to Cradle“.


Quellen:

1. Zum Umsetzungsstand von Nachhaltikeitskriterien in öffentlichen Beschaffungen finden Sie weitere Informationen in unserem Experteninterview mit Prof. Dr. Christian von Deimling und in den Auswertungen von 160 Ausschreibungen im Reinigungssektor der Universität der Bundeswehr München ( Hier geht’s zu Teil 1, 2 und 3 der Auswertung).

2. „Zur Berücksichtigung etwaiger Preissteigerungen können die Parteien vertragliche Vereinbarungen treffen. Beispielsweise können sie eine Preisgleitklausel in den Vertrag aufnehmen. Diese kann indexbasiert oder kostenbasiert ausgestaltet werden. Bei der Vereinbarung können die Parteien eine eigene Klausel formulieren, sie können auf formularmäßig vorformulierte Klauseln zurückgreifen und diese gegebenenfalls anpassen, sie können beispielsweise auch die Regelung aus dem Vergabehandbuch des Bundes (Formblatt 225 VHB oder 225a VHB) direkt oder entsprechend verwenden.“ (Quelle: Dr. Barbara Schellenberg, Fachanwältin für Baurecht im Interview zu Preisgleitklausen mit Wolters Kluwer, vom 25.08.2022, https://www.wolterskluwer.com/de-de/expert-insights/alles-wichtige-zu-preisgleitklauseln, aufgerufen 15.02.2023)